Kein Mensch ist nur krank

Mittwoch. 27. Februar 2019 (Pressestelle)
Studentinnen halten bunte Karten hoch, auf die sie Thesen zur Genesungsbegleitung geschrieben haben.
Botschaften, die die Studierenden aus der Diskussion mitgenommen haben, haben sie auf bunten Kärtchen zusammengefasst.

Gwen Schulz war fünf Jahre in stationärer psychiatrischer Behandlung. Heute arbeitet sie als Genesungsbegleiterin und unterstützt selbst Menschen mit psychischen Erkrankungen. Über ihre Erfahrungen hat sie mit Studierenden der Sozialen Arbeit diskutiert.

Einsamkeit, Isolation, Angst vor Stigmatisierung und Scham – mit diesen Problemen kämpfen Menschen mit psychischen Erkrankungen. Gwen Schulz kann das gut nachvollziehen. Auch sie hat solche Gefühle durchlebt. „Nirgendwo wird unbarmherziger zwischen gesund und krank unterschieden als in der stationären Psychiatrie“, erklärt die 63-Jährige. „Für mich war es wichtig, mich von dieser scharfen Trennung zu lösen und meinen eigenen Weg zu entdecken.“ Sie hat eine einjährige Ausbildung zur Genesungsbegleiterin durchlaufen und nutzt damit ihre eigenen Erfahrungen für die Begleitung von Menschen in Krisen. Seit neun Jahren arbeitet sie in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Gerade in der stationären psychiatrischen Versorgung haben die Anliegen und Bedürfnisse von Patient*innen lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Vor diesem Hintergrund ist die Idee entstanden, Menschen mit eigener Psychiatrieerfahrung in die Versorgung einzubinden.

Ihre Arbeit erlebt Gwen Schulz vor allem als Bereicherung: „Die dunklen Zeiten, durch die ich gehen musste, haben nun einen Sinn“, sagt Schulz. Bei ihrer Arbeit sei es wichtig, dem Gegenüber als Mensch zu begegnen. „Auch ein nicht-perfektes Leben ist ein gelungenes Leben.“ Ihre zentrale Botschaft lautet deshalb auch: „Kein Mensch ist nur krank!“ Das beste Mittel, um zu verhindern, dass Menschen mit psychischen Erschütterungen stigmatisiert werden, bestehe darin, dass auch Fachkräfte zu ihrer Verletzlichkeit stehen. „Menschsein ist für alle eine Herausforderung“, betont Schulz.

Genesungsbegleiter*innen sollen die Arbeit von Sozialarbeiter*innen oder Psychotherapeut*innen nicht ersetzen. Sie können sie aber bereichern, in dem sie Gespräche und Hilfe auf Augenhöhe anbieten.  

Um den Studierenden der Sozialen Arbeit die Aufgaben von Genesungsbegleiter*innen näher zu bringen, hat Prof. Dr. Christine Kröger Gwen Schulz in ihre Lehrveranstaltung eingeladen. Möglich war das durch eine Förderung des Innovationsfonds der Hochschule Coburg. „Ich bin froh, dass wir so intensiv miteinander diskutieren konnten. Das Konzept der Genesungsbegleitung ist gerade für die Soziale Arbeit relevant, denn es zeigt, wie Empowerment funktioniert und ermöglicht Menschen, die schwere Lebenskrisen erfahren haben, wieder an der Gesellschaft teilzuhaben“, betont Prof. Dr. Christine Kröger.

Die Studierenden lernten auch die Herausforderungen kennen, die Genesungsbegleiter*innen bewältigen müssen. Zum Beispiel, die Zusammenarbeit mit Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen. „Ich denke, wir als künftige Sozialarbeiter*innen sollten Brücken zu den Genesungsbegleiter*innen bauen“, stellt Studentin Alicia Gottwald nach dem Gespräch mit Gwen Schulz fest.

Die Studierenden beeindruckte vor allem die Offenheit mit der die 63-Jährige ihre Lebensgeschichte und Erfahrungen teilte. „Besonders berührt hat mich ihre Stärke. Trotz aller Herausforderungen widmet sie sich der Tätigkeit als Genesungsbegleiterin so kraftvoll und sensibel zugleich. Sie macht Mut und schafft es, für andere ein Anker zu sein, obwohl ihr dieser Halt selbst lange Zeit gefehlt hat“, erzählt Mailin Klabes. „Mir ist noch einmal sehr bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass mich als Fachkraft auch als Mensch zeige und mich nicht hinter einer Maske von vermeintlicher Professionalität verstecke“ meint Anna Reitinger. Ihr Kommilitone Martin Balszuweit ergänzt „Viele Inhalte, die wir uns im Lauf des Semester erarbeitet haben, haben durch die Diskussion mit Frau Schulz Farbe bekommen.“ Als Fazit gab Gwen Schulz den Studierenden noch mit: „Wenn Sie Menschen in Krisen echte Wertschätzung entgegenbringen, dann ist das nie umsonst – etwas davon kommt immer an, selbst wenn es für Sie nicht spürbar wird.“

Unter Mitarbeit von Luisa Simon, Jonas Wirth, Selina Eller, Saskia Drägestein, Nora Kleinschmidt (alle 5. Semester, Soziale Arbeit)